Big Data in Zeiten der Coronakrise: Zwischen Pandemie und Panoptismus

Lesezeit16 min

Wir sollten für soziale Teilhabe und individuelle Effektivität auf keinen Fall unser Recht auf das Futur opfern müssen, kompromittierte das doch unseren Willen zum Wollen, unsere Autonomie, unsere Entscheidungsrechte, unsere Privatsphäre und nicht zuletzt unser Menschsein selbst.

Shoshana Zuboff

Überall auf der Welt wurden während der verhängten Lockdowns etliche Lebensbereiche in den digitalen Raum verlagert: Home-​Office statt der Büroarbeit, E‑Learning statt dem Schulbesuch, Essenslieferdienste oder Teledrinking-​Bars statt dem Wirtshausbesuch, Videocalls, um sich mit Freunden zu unterhalten und nicht zuletzt das bargeldlose Bezahlen – und all das, um zumindest ein Minimum an sozialer Teilhabe zu erfahren. Zur alltäglichen Gewohnheit wurde all dies durch die Ausgangsbeschränkungen beziehungsweise gesetzlich vorgeschriebenen Einlassbedingungen. Der Medientheoretiker Peter Weibel sprach relativ früh von der Entstehung der »erste[n] Ferngesellschaft der Menschheitsgeschichte.« (Weibel 2020) Als Weg aus der sozialen Distanz preisen die Machthabenden seit langem ein einziges Mittel an: die Impfung und den Grünen Pass. Mittels QR-​Codes kann die Gesundheitsinformation einer Person erfragt werden – sei es Impfung, Testung, Genesung oder eben Erkrankung.

Die Konzentration auf das Medizinische trübt jedoch den Blick für die Einführung digitaler Identitäten – Andrea Komlosy schreibt: »Corona ist freilich nur der Anlass, die Gelegenheit, der Katalysator. Auch bei der Abschöpfung und Steuerung unseres Verhaltens wird eine bereits im Gang befindliche Entwicklung befördert. Es ist die Angst, die uns für den ‚Überwachungskapitalismus‘ empfänglich macht.« (Komlosy 2021: 34) Soshana Zuboffs Buch The Age of Surveillance Capitalism (dt.: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus erschien knapp ein Jahr vor Ausbruch der Covid-​19-​Pandemie. Doch stellt dieses hinsichtlich der letzten zwei Jahre eine ergiebige Lektüre dar, macht es letztlich Entwicklungen und Gefahren von besagten Verlagerungen in den digitalen Raum besser verständlich.

Datafizierung der Welt 

Doch was meint Datafizierung und Big Data überhaupt? Es bezeichnet ein Phänomen beziehungsweise Konzept, welches »die Umwandlung von allem nur Vorstellbaren – auch von Dingen die wir nie als Informationen betrachtet hätten […] in Datenform, um sie damit quantifizieren zu können. Dadurch können wir diese Informationen auf ganz neue Art verwenden, zum Beispiel für Analysen und Vorhersagen.« (Mayer-​Schönberger/​Cuker 2013: 24)

Die Erklärungsleistung dieser Daten zielt dabei nicht auf das Warum (Kausalität) ab, sondern auf das Was (Korrelation), worin sich letztlich die Gefahr der Manipulation verbirgt: »Die Kausalität ist, anders als die Korrelation, ihrem Wesen nach überprüf‑, hinterfrag- und angreifbar. Sie ist nicht proprietär und eignet sich daher weniger zum Aufbau von Machtgefälle.« (Arnold 2021: 33) Gerade die riesigen Internetfirmen verwandeln personenbezogene Daten – diese »Rohstoffe der Plattformökonomie« (Komlosy 2021: 33) – in Waren: Dabei schürfen sie nach menschlichen Erfahrungen, welche sich aus den Aktivitäten der Internetnutzer herausfiltern lassen – sei es durch Facebook-​Likes, Tweets, Google-​Suchen oder Bilderuploads. Dies schafft rentable ‚Vorhersageprodukte‘, wodurch künftige Handlungen erahnt werden können (vgl. Zuboff 2018: 22). Im Zuge dessen wurden bereits unter Einsatz von KI-​basierten Analyse-​Softwares etliche Persönlichkeitsprofile erstellt, welche Aufschlüsse über Vorlieben, Motivationen und Persönlichkeitsdifferenzen geben, darunter fallen bspw. die sexuelle Orientierung, politische Ansichten, das biologische Alter etc. So lassen sich auch Vorhersagen über psychische Dispositionen wie Depressionen und Psychosen treffen. Diese computergestützte psychometrische Forschung ist u.a. für den Marketingbereich von großem Interesse, zumal dadurch für jeden Einzelnen passgenaue Werbung geschaltet werden kann (vgl. ebd.: 313 – 315). Doch betrifft dies nicht bloß Werbung, sondern ebenso Meinungsmanipulationen und geschickt platzierte Anleitungen, wodurch das individuelle Verhalten durch KI-​basierte Prognosesysteme kontrollier- und formbar wird (vgl. Komlosy 2021: 34). Es geht also um nichts anderes als um die exakte Vermessung menschlichen Verhaltens und um eine körperliche Kartierung, indem der Körper das biopolitische Objekt darstellt, welches der numerischen Kontrolle unterworfen wird. Der von einer Künstlichen Intelligenz analysierte Mensch wird wie der Häftling im Panopticon »Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation.« (Foucault 1977: 257)

In diesem Zusammenhang erweisen sich Daten im »Regime des imaginären Kapitals« (Lenger 2014: 160) als gewinnbringende Ressourcen. Zuboff beschreibt den Überwachungskapitalismus als »antidemokratische[n] und antiegalitäre[n] Moloch« und als »marktorientierte[n] coup d’état von oben« (Zuboff 2018: 586). Rekurrierend auf Zuboffs Ausführungen konstatieren Maschewski und Nosthoff, dass sich jüngst »eine Expansionsdynamik erkennen [lässt]«, wonach sich Big-​Tech-​Konzerne durch die »beständige Akkumulation von Verhaltens- und Gesundheitsdaten immer mehr zu dem entwickeln, was man als Big Health bezeichnen kann.« (Maschewski/​Nosthoff 2022: 6) Dabei führen sie den treffenden Terminus der »überwachungskapitalistischen Biopolitik« ein: Hierzu bieten Big-​Tech-​Konzerne insbesondere Wearables (bspw. Smartwatches) unter Anpreisung der Gesundheitsfürsorge und im Namen wissenschaftlicher Forschung (fernab von gleichen Zugriffsrechten, Stichwort: Open Source/​Open Data) und Erkenntnis an, um den menschlichen Körper zu kartieren. Insbesondere zur Beobachtung der Lebensführung kann diese Technik zum Einsatz kommen, um zu kontrollieren, wie gesund beziehungsweise ungesund eine Person lebt, entsprechend ermöglicht dies Pay-​as-​you-​live-​Versicherungen: So müssten die Beobachteten künftig mehr oder weniger Geld in die Krankenkasse einzahlen.

Disziplin und Kontrolle

Wie bei so vielen zeitgenössischen Phänomenen weist auch der Überwachungskapitalismus historische Vorläufer auf, u.a. in den polizeilichen Aufschreibesystemen des 18. Jahrhunderts: Die Pariser Polizei – als Vorgängerin der NSA gedacht – fertigte unzählige Textdokumente über alltäglichste Ereignisse an (vgl. Herwig/​Tantner 2014: 13). So hegte auch der Polizeioffizier Guillauté in einer Schrift aus dem Jahr 1749 den Wunschtraum totaler Überwachung durch eine bürokratische Maschine, welche die Pariser Stadtbewohner samt Aufenthaltsorte und Bewegungsmuster registrieren sollte (vgl. ebd.: 18). Diese polizeiutopische Kontrollgesellschaft von einst findet ihre Realisierung im digitalen Zeitalter – ganz ohne Zwang und äußerem Zutun. Beinahe jede Person trägt ein Smartphone mit sich mit, welches Standortdaten und Bewegungsprofile mittels Handypositionsdaten offenlegt – eine breite Anwendung findet und fand diese Datenauswertung in der Coronakrise, so hat etwa der österreichische Mobilfunker A1 recht bald Daten an die Regierung geliefert, um Mobilitätsprofile zu rekonstruieren (vgl. Sulzbacher/​Al-​Youssef 2020). Vermeintliche Hilfstechnologien wie Contact-​Tracing-​Apps zur Eindämmung der Pandemie eröffnen ungeahnte obrigkeitliche Kontrolle und Überwachung – hinsichtlich der Infektionseindämmung spricht der deutsche Chaos Computer Club jedoch von verschwendeten Steuergeldern wegen des »digitale[n] Heilsversprechen[s]« (Chaos Computer Club 2021). Diese theologische Diktion zeigt die religiöse Dimension der Corona-​Krise an. Sie zeugt von der Sehnsucht nach heilsgeschichtlichen Erzählungen in säkularisierten Zeiten: Die Impfstoffgabe ersetzt die konsekrierte Hostie, die medizinische Gesundheit substituiert die messianische Erlösung und nicht zuletzt die Datafizierung als Wegbereiter des irdischen Paradieses. Der Virus evoziert einen neuen Mythos in der ‚entzauberten Welt‘ (Max Weber), eine manichäische Dualität: der Virus als das Böse und die Impfung als das Gute. Das Credo lautet: ist die ganze Welt erst durchgeimpft, ist das Böse aus der Welt und das Ende der Geschichte eingeläutet.

Zugleich offenbart der Grüne Pass einen Gestaltungswillen urbaner Ordnung, wie es der polizeilichen Praxis des frühneuzeitlichen Paris schon in Zügen inhärent war: »Indem sie [die Pariser Polizei, Anm.] den sozialen Raum der Stadt durch Normierung und Kontrolle zu ordnen versucht, drücken sich beide Modi der Machtausübung auch im physisch begriffenen Stadtraum aus und strukturieren diesen.« (Sälter 2006: 113) Insbesondere zu Pandemie- und Epidemiezeiten kommt dem Raum eine tragende Rolle bei der Disziplinierung und Kontrolle zu, so schreibt Foucault in Bezug auf die Pest, dass in dem »geschlossene[n], parzellierte[n], lückenlos überwachte[n] Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden« (Foucault 1977: 253). Die Pandemie schuf die Strukturen der Einschließung. Im Schwarzen Tod gründet die Idee eines Ausnahmezustandes, der zur Norm wurde, indem sich ein neues Regierungsparadigma, ein Disziplinarsystem etablierte: »Die Ordnung schreibt jedem seinen Platz, jedem seinen Körper, jedem seine Krankheit und seinen Tod, jedem sein Gut vor«. (ebd.).

Durch die variierenden Regelungen von 2G, 2G+ 2,5G, 3G und der Einhaltungskontrolle derselben wird festgelegt, wer welchen Raum betreten darf – es führt zur Ausschließung derjenigen, welche die Vorgaben nicht erfüllen können oder wollen. Dieser Ausschluss erfolgt durch Bewegungsbarrieren, einer Überwachung und Kontrolle der Mobilität. Dem Körper wird durch eines oder mehrere G die Rechtmäßigkeit oder durch das Fehlen desselbigen die Illegitimität seines Aufenthaltes eingeschrieben. Erst das digitale Zertifikat, welches auf eine Impfung, Genesung oder ein negatives Testergebnis verweist, erlaubt den Zutritt in das Wirtshaus, ins Kleidungsgeschäft oder den Übertritt von Landesgrenzen, teilweise auch innerstaatlicher Bezirksgrenzen. Die zuwiderhandelnden Ungeimpften und Ungetesteten tragen in diesem Rechtssystem das Stigma der ›biocriminal bodies‹ (Pérez Navarro 2018: 205), welche durch ihre Renitenz eine passive Resistenz gegen die paternalistische Verhaltenslenkung ausüben – im Sinne Foucaults eine Haltung dafür »nicht dermaßen regiert werden zu wollen« (Foucault 1992: 12), die für ihn ein bestimmendes Element jeder Kritik ist. Das Framing geht soweit die sich Verweigernden als Krisenverlängerer zu verurteilen, als die Hauptschuldigen für die wiederkehrenden Lockdowns, dabei versucht diese Darstellung den simplen Fakt zu eskamotieren, dass nicht die Ungeimpften sondern die Regierenden es sind, welche einen Lockdown verhängen oder verlängern. Diskriminatorische Praktiken erfolgen dabei zwar auch entlang der Dichotomie geimpft/​ungeimpft, aber davor schon zwischen jenen, die zertifiziert sind und jenen, die nicht zertifiziert sein wollen – das Pech jener, »die im Umkreise dieses Landes eingepfercht sind« (Benjamin 1997: 33).

Deleuze schreibt in seiner kurzen Abhandlung Postskriptum über die Kontrollgesellschaften: »die Massen [sind] Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹ « (Deleuze 1993: 258) geworden, welche sich durch digitale Neuerungen und gesteigerter Effektivität zu einer unermesslichen Datenakkumulation verdichten. Neben dem Gefängnis‑, Unternehmens- und Schul-​Regime nennt er das Krankenhaus-​Regime als Kontrollinstanz: »die neue Medizin ›ohne Arzt und Kranken‹, die potentielle Kranke und Risiko-​Gruppen erfaßt, was keineswegs von einem Fortschritt hin zur Individuierung zeugt, wie man sagt, sondern den individuellen oder numerischen Körper durch die Chiffre eines ‚dividuellen‘ Kontrol-​Materials ersetzt.« (ebd.: 261f) Der Begriff des ›Dividuums‹, des Teilbaren, ist zentral für das Verständnis: Durch Big Data wird das Individuum, das Unteilbare, in Datensätze aufgelöst, welche sich digital be- und verarbeiten lassen. Im Fokus stehen nicht die Einzelnen und deren Engagement mit- und untereinander, sondern die Datenströme. Im Gesundheitsmarkt angesiedelten Tech-​Konzernen kommt als »Apologet[en] der überwachungskapitalistischen Biopolitik« eine Schlüsselposition im Pandemiegeschehen und der daran geknüpften Analyse immenser Datenmengen zu, denn sie wussten »die pandemische Ausnahmesituation als ein schockstrategisches Moment« (Maschewski/​Nosthoff 2022: 19) zu begreifen: Als die Trump-​Regierung in den USA noch kaum reagierte, hat Google bereits begonnen Bundesstaaten bei der Testung zu unterstützen. Die Getesteten mussten hierfür Angaben zu Gesundheitsdaten sowie Kondition, Krankengeschichte, den zuständigen Ärzten und Wohnort übermitteln. Intention sei dabei die Entwicklung neuer Gesundheitstools, exemplarisch dafür ist das Google-​Forschungsunternehmen Verily, welches Corona-​Screenings mittels eines App-​basierten Fragebogens zu Symptomen anbietet, um einen sicheren Arbeitsplatz zu gewährleisten. Auf diesen haben Arbeitgeber als auch Verily Zugriff. Maschewski und Nosthoff stellen fest, dass »die individuelle Datensouveränität mit den programmatischen Sicherheitsdispositiven nicht selten in Konflikt gerät.« (ebd.)

So wie im 17. Jahrhundert die Disziplinargesellschaft durch das verordnete Seuchenreglement in den von der Pest heimgesuchten Städten einen Nährboden fand (M. Foucault) und wo das 20. Jahrhundert einen Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft markiert (G. Deleuze), so verfestigt sich diese spätestens seit 2020 zu einer algorithmischen Überwachungsgesellschaft im Zeichen der Biosicherheit – basierend auf Digitalität und Distanz.

Seuchenpolitik als Bevölkerungsmanagement 

Abgesehen von der Überprüfung des Gesundheitszustandes implementiert der Grüne Pass die technische Infrastruktur für digitale Personalausweise, in diesem Sinne wirkt die Coronapandemie als Akzeleration des Überwachungskapitalismus, welchen Zuboff in ihrem Buch einleitend als »eine aus der Art geschlagene Form des Kapitalismus, die sich durch eine Konzentration von Reichtum, Wissen und Macht auszeichnet« (Zuboff 2018: 7), beschreibt. Kenntlich wird darin der Nexus von Wissen und Macht, den bereits Foucault beschrieb, gegen welchen die Kritik eine diskursive Gegenmacht darstellt, indem das Subjekt aufbegehrt, »die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin.« (Foucault 1992: 15)

Historisch gründet der Überwachungskapitalismus in der Terrorbekämpfung, indem er sich im Anschluss an die Anschläge vom 9. September 2001 manifestierte, sohin entwickelte er sich aus einem Ausnahmezustand heraus, ohne danach zu verschwinden, sondern sich im Gegenteil zu intensivieren (vgl. Zuboff 2018: 379). Der ‚Patriot Act‘ stellte die öffentliche Sicherheit über Freiheit und Privatsphäre und bewirkte dadurch die Bremsung von Datenschutzbemühungen (vgl. ebd.: 139). In Analogie zu dem seit März 2020 herrschenden Ausnahmezustand dürfte es wohl unwahrscheinlich sein, dass die geschaffenen Strukturen für Kontrollmechanismen und Überwachungspraktiken wieder abgebaut werden: Alles im Namen der öffentlichen Gesundheit, wobei die Regierenden von der »Logik des schlimmsten anzunehmenden Falls« (Agamben 2021: 88) ausgehen, welche die Politik der Biosicherheit bestimmt. So läutet der 11. September die Ära der Massenüberwachung ein, doch der Angstmodus der Corona-​Krise beschleunigt die Einführung der digitalen Identitäten, also den Abbau von Anonymität zugunsten einer totalen Überwachung. In einem im Jahr 2020 stattgefundenen Gespräch zwischen Shoshana Zuboff, Simone Browne und Naomi Klein äußerte letztere, dass die Coronakrise eine erschreckende Verschmelzung von ‚Schockdoktrin‘ und Überwachungskapitalismus bedeuten könnte. Allerdings wird zu bedenken gegeben, dass der Überwachungskapitalismus zwar die Krise nutzen wird, seinen Machteinfluss auszubauen, aber auch ein Teil der Lösung sein könnte (vgl. The Intercept online 2020). Jedoch liegt der Fehler gerade in dem Glauben, dass technologischer Solitionismus mittels Big Data zur Lösung von Problemen beitragen könnte, die gerade erst dadurch aufgerufen wurden, au contraire gehen solutionistische Ansätze oftmals am eigentlichen Problem vorbei – wie dies das Scheitern der Kontaktnachverfolgung durch Corona-​Warn-​Apps illustriert (vgl. Arnold 2021: 31). Die solutionistische Gesinnung zielt folglich auch während der Covid-​19-​Pandemie darauf ab, mithilfe eines Überschusses an Daten die Gesundheitskrise zu lösen. Gewiss sind auch positive Effekt von Datenanalysen nicht zu leugnen, aber zumal sich die Datensammlungen v.a. in den Händen von Tech-​Giganten befinden, wäre es ein Ausdruck von Naivität, die ‚Heterogenie der Zwecke‘ (W. Wundt/​R. Koselleck) zu verkennen: Demnach werden während des Prozesses der Zweckerreichung neue Motive gesetzt respektive entdeckt. Als epistemisches Werkzeug kann die Datafizierung neue Erkenntnis leisten (bspw. in den Digital Humanities), aber in weiterer Folge auch zur Verhaltenslenkung missbraucht werden. Während der Corona-​Pandemie konzentriert sich der Blick – selbstredend – auf den Themenkomplex Gesundheit, doch öffnet diese zugleich – unbemerkt – »das Einfallstor für Kontroll‑, Sicherheits- und Überwachungstechnologien« (Komlosy 2021 35), wodurch Verhaltensabweichungen messbar und in weiterer Folge geahndet werden können – alles unter dem Deckmantel individueller Optimierung. Nicht zuletzt Arbeitgeber werden Gefallen daran finden, um etwa langsameres Arbeiten als auch ausschweifende Pausen zu erkennen und zu sanktionieren (vgl. ebd.).

Endstation Sozialkreditsystem?

Trotz andauernder Proteste gegen die biopolitischen Maßnahmen scheint eine gewisse Gleichgültigkeit oder gar der bereitwillige Gehorsam für die ’neue Normalität‹ eines autoritären Kapitalismus nach chinesischem Vorbild vorhanden zu sein. Das dortige Sozialkreditsystem besteht aus einer Reihe von Datenbanken, die darauf abzielen, eine Big Data unterstützte Bewertung der Vertrauenswürdigkeit, Moralität und des Verhaltens von Einzelpersonen und Unternehmen zu ermöglichen: Je nach Einstufung werden Belohnungen oder Sanktionierungen rückgemeldet (Creemers 2018: 2). Diese Feedbackschleife führt zur Konfiguration des Selbst im Sinne der Obrigkeit.

Die Datafizierung birgt das Sozialkreditsystem als Risiko in sich: Überwachung in Echtzeit samt Ranking durch credit points. Technologische Tools wie Überwachungskameras und Gesichtserkennungssysteme, Big Data und Künstliche Intelligenz dienen der Herrschaft für ihr Sozialmanagement (vgl. ebd.). Dies bedeutet die Missachtung von Privatheit und das Recht auf die eigenen Daten. In China wird mittels App-​gesteuerter Regulierung der Bewegungsraum ein- beziehungsweise abgegrenzt (bspw. ob man ein Einkaufszentrum betreten darf). Dieser bestimmt sich durch die virologische Gefährdung (Kontaktanzahl und Mobilität). Guido Arnold denkt das technokratische Szenario zugespitzt fort:

Ist es in ordnungspolitischer Denkweise nicht konsequent, den Menschen generell als multidimensionalen Risikofaktor wahrzunehmen und damit die Kategorie des Gefährders entlang unterschiedlicher Risiken weiter zu differenzieren und gemäß ‚Gefährdergrad‘ unterschiedliche Einschränkungen zu verordnen? […] Denn es ist für die relationale Unterscheidung unerheblich, ob mensch hochdifferenzierte Einschränkungen per Malus verhängt oder in der Umkehrung soziale Teilhabechancen per Bonus diversifiziert. (Arnold 2021: 35)

Dieser digitalisierten Cyberwelt ist eine programmatische Ungleichbehandlung eingeschrieben, wonach es zu einer »Entsolidarisierung hin zu einer Ethik der sozio-​ökonomischen Selektion« (ebd.: 34f) kommt. Daraus folgt, dass sich die traditionellen Klassenbegriffe zugunsten eines individuell angepassten Informationssystems auflösen, in dieser atomisierten und sich selbst abstrakt fassenden Gesellschaft gäbe es keine Gemeinsamkeiten zu einer klassenmäßigen Solidarisierung mehr – mit den Worten Arnolds bedingt das eine »neue vermeintlich ›klassenlose‹ Deklassierung« (ebd.: 35). Entsprechend befördert dies eine gesellschaftliche Entsolidarisierung, welche ein gruppenkohäsives Opponieren erschwert, da sich in einem solche Zustand die Klassenzugehörigkeit kaum mehr über lohnarbeitliche Kategorien definieren lässt. Je feiner die Parameter der Differenzierung, umso weniger dürften sich Gleichgestellte finden, denn jeder stünde auf einer anderen Stufe im Ranking, was unterschiedliche Partizipationsmöglichkeiten beziehungsweise Ausschlussverfahren bedeute. Digitale Netztechniken infiltrieren die »Mikrostrukturen der Gesellschaften« (Lenger 2014: 161), sozusagen kann Big Data zu einer »Bedrohung unserer politischen Freiräume« (Herwig/​Tantner 2014: 34) werden.

Im pandemischen Ausnahmezustand sollten wir also den Abbau von Datenschutz und Privatheit untereinander und vor allem vor dem Staat nicht aus dem Auge verlieren. Damit der digitale Raum zu keinem Regime algorithmischer Kontrolle verkommt, welches der wirtschaftlichen Logik von Big-​Tech-​Konzernen folgt, lässt sich abschließend nochmals auf Zuboff verweisen:

Einer der Schlüsse, die sich daraus ziehen lassen, ist, dass die überwachungskapitalistische Herrschaft über die Wissensteilung in der Gesellschaft das eine wesentliche Merkmal ist, das mit den alten Rechtfertigungen einer unsichtbaren Hand und der sich daraus ergebenden moralischen Ansprüche bricht. Die Kombination von Wissen und Freiheit trägt zur Beschleunigung der Machtasymmetrie zwischen Überwachungskapitalisten und den Gesellschaften bei, in denen sie operieren. Unterbrechen lässt sich dieser Kreislauf nur, wenn wir als Bürger, als Gesellschaft, ja als Zivilisation der Tatsache Rechnung tragen, dass Überwachungskapitalisten zu viel wissen, um in den Genuss der Freiheit zu kommen, die sie für sich beanspruchen. (Zuboff 2018: 571)

Oder in den Worten der Band Mono für Alle: »Facebook, YouTube, Google – fuck off!«

Literatur

Giorgio Agamben, An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik (Wien 2021).

Guido Arnold, Solutionistisches Bevölkerungsmanagment. Programmatische Ungleichbehandlung durch BigData und Künstliche Intelligenz. In: kultuRRevolution 81 (2021) 31 – 36.

Walter Benjamin, Die Einbahnstraße (Frankfurt am Main 131997).

Chaos Computer Club, Luca-​App: CCC fordert Bundesnotbremse. In: CCC, 13.04.2021, online unter < https://​www​.ccc​.de/​d​e​/​u​p​d​a​t​e​s​/​2​0​2​1​/​l​u​c​a​-​a​p​p​-​c​c​c​-​f​o​r​d​e​r​t​-​b​u​n​d​e​s​n​o​t​b​r​e​mse> (16.02.2022).

Rogier Creemers, China’s Social Credit System. An Evolving Practice of Control. In: SSRN, 09.05.2018, online unter <https://​ssrn​.com/​a​b​s​t​r​a​c​t​=​3​1​7​5​792> (21.02.2022).

Gilles Deleuze, Unterhandlungen. 1972 – 1990 (Frankfurt am Main 1993).

Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Frankfurt am Main 1977).

Michel Foucault, Was ist Kritik? (Berlin 1992).

Jana Herwig, Anton Tantner, Zu den historischen Wurzeln der Kontrollgesellschaft (Wiener Vorlesungen im Rathaus, Wien 2014).

Andrea Komlosy, Ein Schub für den Überwachungskapitalismus. Von der Aneignung der Arbeitskraft zur Aneignung der menschlichen Erfahrung. In: Ursula Filipič, Annika Schönauer (Hg.), Ein Jahr Corona: Ausblick Zukunft der Arbeit (Sozialpolitik in Diskussion 23, Wien 2021) 28 – 36.

Hans-​Joachim Lenger, Virtualität und Kontrolle. In: Frank Haase, Till A. Heilmann (Hg.), Interventionen. Festschrift für Georg Christoph Tholen (Marburger Schriften zur Medienforschung 45, Marburg 2014) 157 – 172.

Felix Maschewski, Anna-​Verena Nosthoff, Überwachungskapitalistische Biopolitik. Big Tech und die Regierung der Körper. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 01.02.2022, online unter <https://​doi​.org/​1​0​.​1​0​0​7​/​s​4​1​3​5​8​-​021 – 00309‑9> (17.02.2022).

Viktor Mayer-​Schönberger, Kenneth Cukier, Big Data. Die Revolution, die unser Leben verändern wird (München 2013).

Pablo Pérez Navarro, Biocriminality and the Borders of Public Order. In: José Miranda Justo, Paulo Alexandre Lima, Fernando M. F. Silva (Hg.), Questioning the Oneness of Philosophy (Lissabon 2018), 203 – 214, hier 205.

Gerhard Sälter, Ordnung in der Stadt. Zur Kontrolle urbaner Räume am Beispiel der Pariser Polizei an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Christian Hochmuth, Susanne Rau (Hg.), Machträume der frühneuzeitlichen Stadt (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 13, Konstanz 2006), 111 – 131.

Markus Sulzbacher, Muzayen Al-​Youssef, Mobilfunker A1 liefert Bewegungsströme von Handynutzern an Regierung. In: derStandard, 17.03.2020, online unter <https://​www​.derstandard​.at/​s​t​o​r​y​/​2​0​0​0​1​1​5​8​2​8​9​5​7​/​m​o​b​i​l​f​u​n​k​e​r​-​a​1​-​l​i​e​f​e​r​t​-​b​e​w​e​g​u​n​g​s​s​t​r​o​e​m​e​-​v​o​n​-​h​a​n​d​y​n​u​t​z​e​r​n​-​d​e​r​-​r​e​g​i​e​r​ung> (14.02.2022).

Peter Weibel, Virus, Viralität, Virtualität. In: Neue Zürcher Zeitung, 20.03.2020, online unter < https://​www​.nzz​.ch/​f​e​u​i​l​l​e​t​o​n​/​v​i​r​u​s​-​v​i​r​a​l​i​t​a​e​t​-​v​i​r​t​u​a​l​i​t​a​e​t​-​p​e​t​e​r​-​w​e​i​b​e​l​-​u​e​b​e​r​-​d​i​e​-​e​r​s​t​e​-​f​e​r​n​g​e​s​e​l​l​s​c​h​a​f​t​-​i​n​-​d​e​r​-​m​e​n​s​c​h​h​e​i​t​s​g​e​s​c​h​i​c​h​t​e​-​l​d​.​1​5​4​7​5​7​9​?​r​e​d​u​c​e​d​=​t​rue> (18.02.2022).

Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (Frankfurt/​New York 2018).

The Intercept, Surveillance in an Era of Pandemic and Protest. In: YouTube, 21.09.2020, online unter <https://​www​.youtube​.com/​w​a​t​c​h​?​v​=​w​J​_​j​v​d​A​P​-7U> (15.02.2022).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert