Der Atomkrieg und das Ende der Menschheit

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1958 veröffentlichte Karl Jaspers ein Buch mit dem Titel Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, in dem er – wie es im Untertitel heißt – das politische Bewusstsein unserer Zeit radikal in Frage stellen wollte. »Die Atombombe«, so beginnt er in der Einleitung, »hat eine völlig neue Situation in der Geschichte der Menschheit geschaffen«, die sie vor die unvermeidliche Alternative stellt: »Entweder wird die gesamte Menschheit physisch vernichtet, oder der Mensch muss seine ethisch-​politische Verfassung verändern«. Wenn in der Vergangenheit, wie in den Anfängen der christlichen Gemeinschaften, die Menschen »irreale Vorstellungen« von einem Ende der Welt hatten, so hat die Menschheit heute zum ersten Mal in ihrer Geschichte die »reale Möglichkeit«, sich selbst und alles Leben auf der Erde zu vernichten. Diese Möglichkeit kann, auch wenn sich die Menschen dessen nicht voll bewusst zu sein scheinen, nur einen Neubeginn des politischen Bewusstseins markieren und »einen Wendepunkt in der gesamten Menschheitsgeschichte« bedeuten.

Fast siebzig Jahre später scheint die »reale Möglichkeit« der Selbstzerstörung der Menschheit, die das Gewissen des Philosophen zu erschüttern schien und seine Leser unmittelbar mit einbezog (das Buch wurde breit diskutiert), zu einer offensichtlichen Tatsache geworden zu sein, die von Zeitungen und Politikern jeden Tag als völlig normale Möglichkeit heraufbeschworen wird. Durch das irrsinnige Reden vom Notfall – in dem die Ausnahme bekanntlich zur Regel wird – stellt sich das von Jaspers als unerhört angesehene Ereignis als ein allzu banales dar, dessen Angemessenheit und unmittelbares Bevorstehen von Experten zu beurteilen ist. Von dem Moment an, da die Bombe nicht mehr eine ausschlaggebende »Möglichkeit« für die Geschichte der Menschheit ist, sondern uns als ein »Zufall« unter anderen, die eine Kriegssituation ausmachen, aus nächster Nähe betrifft, sollte man die Frage noch einmal überdenken, die vielleicht nicht in ihrer richtigen Form gestellt wurde.

Dreizehn Jahre später kam Maurice Blanchot in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel »Die Apokalypse enttäuscht« auf das Problem des Endes der Menschheit zurück. Und er tat dies, indem er Jaspers’ Thesen einer diskreten, aber nicht weniger wirksamen Kritik unterzog. Wenn das Thema des Buches die Notwendigkeit eines epochalen Wandels war, ist es erstaunlich, dass

Jaspers in dem Buch, welches das Bewusstsein, der Neuanfang und der Kommentar dieses Wandels sein soll, nichts geändert hat – weder in der Sprache, noch im Denken, noch in den politischen Formeln, die beibehalten werden und in der Tat um lebenslange Vorurteile, einige sehr edel, aber andere sehr eng, festsitzen. Wie ist es möglich, dass eine Problematik, die das Schicksal der Menschheit aufs Spiel setzt und deren Angehen eine völlig neue Denkweise voraussetzt, die Sprache, welche sie ausdrückt, nicht erneuert hat und nur Überlegungen hervorbringt, die in der politischen Ordnung parziell und parteiisch beziehungsweise in der geistigen Ordnung dringlich und erregend, aber mit denen identisch sind, die man seit zweitausend Jahren vergeblich wiederholt hat?

Der Einwand ist durchaus berechtigt, denn Jaspers’ Buch stellt sich nicht nur als umfassende wissenschaftliche Monographie dar, die das Problem in all seinen Aspekten beleuchten will, sondern, was der Autor der Zerstörung entgegensetzen will, ist der Allgemeinplatz vom »Weltfrieden ohne Atombomben, mit einem neuen Leben, das wirtschaftlich auf der Atomenergie basiert«. Nicht weniger singular ist, dass der Atombombe die totalitäre Herrschaft des Bolschewismus als gleichermaßen tödliche Gefahr an die Seite gestellt wird, mit der man sich nicht einigen könne.

Tatsache ist, so scheint Blanchot anzudeuten, dass eine solche apokalyptische Perspektive notwendigerweise enttäuschend ist, weil sie sich als Macht in den Händen der Menschheit darstellt, die sie in Wahrheit nicht ist. Es handelt sich nämlich um »eine Macht, die nicht in unserer Macht steht, die auf eine Möglichkeit verweist, die wir nicht beherrschen, eine Wahrscheinlichkeit – nennen wir sie wahrscheinlich-​unwahrscheinlich –, die nur dann eine eigene Macht zum Ausdruck bringen würde, wenn wir sie sicher beherrschten. Im Moment sind wir jedoch ebenso wenig in der Lage, sie zu beherrschen, wie wir sie wollen, und zwar aus einem offensichtlichen Grund: Wir sind nicht Herr über uns selbst, denn diese Menschheit, die völlig zerstört werden kann, existiert noch gar nicht als Ganzes.« Auf der einen Seite gibt es eine Macht, die man nicht ausüben kann, und auf der anderen Seite, als vorgebliches Subjekt dieser Macht, eine menschliche Gemeinschaft, »die man unterdrücken, aber nicht postulieren kann, beziehungsweise die man in gewisser Hinsicht erst nach ihrem Verschwinden postulieren kann, aufgrund der Leere dieses Verschwindens, die man unmöglich erfassen kann: etwas also, das man nicht einmal zerstören kann, weil es nämlich nicht existiert« (S. 124).

Wenn, was unbestreitbar scheint, die Vernichtung der Menschheit keine Option ist, über die die Menschheit bewusst entscheidet, sondern der Kontingenz der weitgehend zufälligen Entscheidungen und Bewertungen dieses oder jenes Staatsoberhauptes anvertraut bleibt, dann ist Jaspers’ Argumentation von Grund auf widerlegt, denn Menschen, die nicht die Fähigkeit haben, sich selbst zu vernichten, können sich dieser Möglichkeit nicht einmal bewusst werden, um ihr Bewusstsein ethisch und politisch zu transformieren. Jaspers scheint hier denselben Fehler zu wiederholen, den Husserl begangen hatte, als er 1935 auf einer Konferenz über »Die Philosophie und die Krise der europäischen Menschheit« zwar die »Abweichungen des Rationalismus« als Ursache der Krise identifizierte, gleichzeitig aber einer nicht definierten europäischen »Vernunft« die Aufgabe anvertraute, die Menschheit in ihrem endlosen Fortschritt zur Mündigkeit zu führen. Die hier bereits klar formulierte Alternative zwischen einem »Verschwinden des sich und seiner rationalen Berufung immer mehr entfremdeten Europas« und einer »Wiedergeburt Europas« durch »ein Heldentum der Vernunft« verrät das unausgesprochene Bewusstsein, dass dort, wo es ein »Heldentum« braucht, kein Platz mehr ist für jene »rationale Berufung« (die, wie es heißt, die europäische Menschheit »vom wilden Papu« unterscheidet, mindestens so sehr wie letztere sich von einem Tier).

Was eine denkende Vernunft nicht zu akzeptieren wagt ist die Tatsache, dass das Ende der europäischen Menschheit oder der Menschheit insgesamt, abgetreten an wohltuende und eitle Bestrebungen, welche das dafür verantwortliche Prinzip unangetastet lassen, am Ende, wie Blanchot vermutet hatte, »in eine einfache Tatsache« zusammenfällt, »über die es nichts zu sagen gibt, außer dass sie komplett bedeutungslos ist, etwas, das weder Begeisterung noch Verzweiflung und vielleicht nicht einmal Aufmerksamkeit verdient«. Kein historisches Ereignis – nicht der Atomkrieg (oder für Husserl der Erste Weltkrieg), nicht die Judenvernichtung und schon gar nicht die Pandemie – kann zu einem epochalen Ereignis hypostasiert werden, wenn es nicht zu einem unverständlichen und leeren idolum historiae werden soll, das man nicht mehr denken und bearbeiten kann.

Jaspers‹ Argument, das auf die Unfähigkeit der abendländischen Vernunft abziehlt, das Problem eines von ihr selbst erzeugten Endes, das sie jedoch in keinster Weise beherrschen kann, zu durchdenken, muss daher vorbehaltlos fallen gelassen werden. Konfrontiert mit der Realität ihres eigenen Endes, versucht sie, Zeit zu gewinnen, indem sie diese Wirklichkeit in eine Möglichkeit umwandelt, welche diese auf eine zukünftige Verwirklichung verschiebt, auf einen Atomkrieg, den die Vernunft noch abwenden kann. Vielleicht wäre es kohärenter gewesen, anzunehmen, dass eine Menschheit, die die Bombe produziert hat, bereits geistig tot ist, und dass man anfangen muss, über das Bewusstsein der Wirklichkeit und nicht über die Möglichkeit dieses Todes nachzudenken. Wenn das Denken das Problem des Weltendes nicht vernünftig behandeln kann, dann deshalb, weil das Denken sich immer am Ende befindet, es erlebt immer die Wirklichkeit und nicht die Möglichkeit des Endes. Der Krieg, den wir fürchten, geht immer weiter und ist nie vorbei, so wie die Bombe, die einst in Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurde, nie aufgehört hat, abgeworfen zu werden. Erst aus diesem Bewusstsein heraus hören das Ende der Menschheit, der Atomkrieg und die Klimakatastrophen auf, lähmende Schreckgespenster für eine Vernunft zu sein, die ihnen nicht auf die Schliche kommen kann, und erscheinen stattdessen als das, was sie sind: politische Phänomene, die in ihrer Kontingenz und Absurdität bereits allgegenwärtig sind und die wir gerade deshalb nicht mehr als alternativloses Verhängnis fürchten müssen, sondern denen wir uns jedes Mal entgegenstellen können, je nachdem, in welchen konkreten Fällen sie auftreten und welche Kräfte uns zur Verfügung stehen, um ihnen zu begegnen oder zu entfliehen. Das ist es, was wir in den vergangenen zwei Jahren gelernt haben, und angesichts derjenigen, die an der Macht sind und sich zunehmend als unfähig erweisen, den von ihnen selbst verursachten Notstand zu verwalten, wollen wir das Beste daraus machen.

Erschienen am 4. Oktober 2022 bei Quodlibet. Die Übersetzungen sind nicht mit den Originalen oder dt. Übersetzungen abgeglichen. 

Bild: Pixabay

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